Vom Deep Learning aus Pflegedaten bis zur Datenbrille in der Eingliederungshilfe – in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft werden KI-Anwendungen immer breiter erforscht und eingesetzt. Beispiele aus den Bereichen Pflege, Eingliederungshilfe und Medizin. 

In der Pflege

Einfach eingesprochen: Pflegedoku via voize-App. Foto: voize/Danijel Grbic.

Ob für assistive Technologien oder die Optimierung von Pflegeprozessen: KI lässt sich in der Pflege vielfältig einsetzen. Noch am Anfang steht das maschinelle Lernen aus Pflegedaten, etwa um Sturzrisiken früh zu erkennen.

Assistive Technologien

Marktreif sind bereits diverse assistive Technologien, die KI nutzen. Beispielsweise hält Amazons Echo-Lautsprecher Alexa in den USA Einzug in Kranken- und Pflegezimmer. Patientinnen und Patienten können darüber mit dem Personal kommunizieren, das Licht und die Temperatur im Zimmer steuern, (Video-)Anrufe starten oder ihr Menü bestellen. Seit 2022 nimmt die Kölner Josefs-Gesellschaft als erstes Sozialunternehmen in Deutschland am Amazon-Programm teil. Dabei fungiert Alexa als sprachgesteuerte Schnittstelle zu potentiell vielen weiteren Anwendungen und Leistungen – z.B. zur Telemedizin. Einen weitergehenden – perzeptiven und interaktiven – Ansatz verfolgt das 2022 gestartete Projekt KARE, an dem die BruderhausDiakonie mitwirkt. Entwickelt wird ein hybrides Assistenzsystem, das die ambulante Pflegeversorgung mit einem KI-basierten Interaktionssystem vereint. Das System soll Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz bei der selbstständigen Haushalts- und Lebensführung unterstützen – und z.B. Seniorinnen und Senioren einen längeren Verbleib in der eigenen Wohnung ermöglichen. Die Idee: Über Sensorik und die Interaktion via Bot erkennt KARE, wie es den Nutzenden geht und wie aktiv sie sind. Falls notwendig, motiviert KARE die Nutzenden zu ausstehenden Handlungen wie die Medikamenteneinnahme. Im Bedarfsfall informiert KARE Pflegende, damit diese rechtzeitig zur Stelle sind – in Telepräsenz oder vor Ort. Gefördert wird KARE durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Als Praxispartner will die BruderhausDiakonie insbesondere die Einbettung in ambulante Versorgungsprozesse und -strukturen untersuchen untersuchen und die Nutzerorientierung des Systems gewährleisten. Auch will das Unternehmen für ethische und rechtliche Fragenstellungen Sorge tragen – etwa die nach Privatsphäre und Datensicherheit. „Der Einsatz solcher Technologien wird die menschliche Fürsorge nicht ersetzen können und soll dies auch nicht“, sagt  Arthur Schimanski, Interimsleitung Geschäftsfeld Altenhilfe. Vielmehr gehe es darum, passgenaue Hilfen für die Pflege zu entwickeln, die mehr Teilhabe, Autonomie und Lebensqualität ermöglichen.

KI-gestützte Pflegeprozesse


Ein weiteres KI-Einsatzfeld ist die Pflegedokumentation. Beispielsweise hat das Potsdamer Startup voize einen digitalen Sprachassistenten entwickelt, mit dem Pflegekräfte Pflegedaten direkt in ein Smartphone einsprechen. Eine KI, die speziell auf die Pflegefachsprache und den Berufsalltag trainiert ist, pflegt die Daten direkt in bestehende Dokumentationssysteme ein, erstellt automatisch Pflegeberichte, Vitaleinträge und Bewegungsprotokolle. Auch die Johannesstift-Diakonie hat voize seit 2022 in einem Pflegeheim im Einsatz und gute Erfahrungen gemacht. „Die Technik unterstützt die korrekte und zeitnahe Dokumentation und verringert Wege“, sagt Tobias Kley, bei der Johannesstift Diakonie Prokurist und Referent Geschäftsfeldentwicklung, Pflege und Wohnen Region Berlin Brandenburg. Der Nutzen für Pflegende stehe im Fokus. „Wir planen die Anwendung auch auf andere Häuser auszurollen.“


Lernen aus Pflegedaten


Das großangelegte maschinelle Lernen aus Pflegedaten steht noch am Anfang. Dietmar Wolff, Professor für Informations- und Kommunikationssysteme für betriebliche Aufgaben an der Hochschule Hof und Vorstandsmitglied des Digitalverbands FINSOZ, sieht das Haupthindernis im fehlenden Zugang zu Pflegedaten. „Wir haben die Daten, aber wir machen nichts daraus“, so Wolff. Auch diakonische Unternehmen seien gefragt, entpersonalisierte Daten für Forschung und Entwicklung zu Verfügung zu stellen, so wie das etwa schon im Energiesektor üblich sei. FINSOZ engagiert sich mit vielen weiteren Partnern wie der Diakonie Baden- Württemberg im KI-Projekt des regionalen Zukunftszentrums Pulsnetz, um neue KI-Ideen für die Sozialwirtschaft zu entwickeln und zu erproben. An der Frage der Datengrundlagen setzt das 2022 gestartete Projekt „KI in der Pflege: Sturz / Delir / Medikation“ (KIP-SDM) an. Beteiligt sind daran u.a. die Charité und das Evangelische Geriatriezentrum Berlin. Mit Hilfe einer dezentralen Datenbank soll Forschenden und Pflegefachpersonen der Datenzugang erleichtert werden. Der Clou: die echten, personenbezogenen Patientendaten verlassen zu keinem Zeitpunkt die jeweilige Einrichtung. Stattdessen werden anhand dieser Daten Modelle entwickelt, die realistische Patientendaten nachbilden. Auf dieser Grundlage können KI-Systeme dann mit Deep-Learning-Verfahren Zusammenhänge herstellen, zum Beispiel zwischen einer bestimmten Medikation und einem erhöhten Sturzrisiko.

In der Eingliederungshilfe

Hightech-Prothesen werden immer besser. Bild: pexels

KI-basierte Assistenzsysteme bieten insbesondere für Menschen mit Behinderung neue Teilhabechancen. Sie erleichtern die Kommunikation und Interaktion. Dazu zählen z.B. Sprachsteuerung, Sprachezu-Text-Umwandlung, Bilderkennung, automatisierte (Audio-)Bildbeschreibungen oder Textgeneratoren.


Microsoft und Google gehen voran


Das Unternehmen Microsoft entwickelt beispielsweise mit dem Programm AI for Accessibility diverse KI-gestützte Anwendungen für Menschen mit einer Behinderung. Zur Unterstützung sehbehinderter Menschen liest etwa die Microsoft-App Seeing AI Texte vor, oder erkennt und beschreibt Produkte und Gegenstände, sobald diese vor der Smartphonekamera erscheinen.Auch Google engagiert sich. Ende 2022 eröffnete das Unternehmen mit Partnern ein Forschungszentrum in London. Gemeinsam mit Menschen mit Behinderung werden neue Anwendungen entwickelt. Gearbeitet wird zum Beispiel an einer App für Menschen, die Schwierigkeiten bei der Artikulation haben. Sie lernt Äußerungen der Betroffenen zu verstehen und zu übersetzen, als Audio und Text. „Technologie berührt so viele Aspekte im Alltag aller Menschen“, kommentiert der BBC-Technikredakteur Paul Carter. „Aber für Menschen mit Behinderung kann sie buchstäblich lebensverändernd sein.“

KI-Anwendungen in der Erprobung

Auch in Deutschland wird erforscht, inwieweit KI-gestützte Technologien den Zugang zur Bildung und zum Berufsleben verbessern, z.B. bis 2022 im Verbundprojekt KI.ASSIST. Am besten schnitten Anwendungen ab, die bei der Wahrnehmung, Kommunikation und Interaktion unterstützen. Beispielsweise testeten Auszubildende für IT- und Elektronikberufe am Berufsbildungswerk München (BFW München) das Augmented-Reality-System Frontline von TeamViewer. Das in Industrie und Logistik verbreitete System spielt über Datenbrillen Schritt-für Schritt-Anleitungen aus, in Form von Bildern, Videos oder Sprachaufzeichnungen. Die Nutzenden können die Anleitung im eigenen Tempo per Sprache steuern. Auch kann das System Muster erkennen – also etwa, ob Nutzende das richtige Werkzeug in der Hand halten. „Unsere Erfahrung mit der Datenbrille ist durchweg positiv, Berührungsängste gab es nicht“, sagt Cornelius Zeitlmann, Teamleiter Ausbildung IT-Berufe am BFW München. Allerdings seien die Teilnehmenden auch sehr technikaffin gewesen. Die drei Datenbrillen aus dem Projekt sind in München weiter im Einsatz. Das BFW hat die Lizenz verlängert. Für einen breitangelegten Einsatz der Datenbrillen in der Ausbildung sieht Zeitlmann aber noch Hürden: den anwendungsspezifischen Konfigurationsaufwand und die Kosten.

Debatte um Human Enhancement


Zunehmend KI-gestützte Technologien wie die Co-Robotik und Hightech-Prothesen bieten nicht nur neue Chancen, sie werfen auch ethische Fragen auf. So geht es in der aktuellen Debatte um das „Human Enhancement“ („Verbesserung des Menschen“) auch darum, ob leistungssteigernde und leistungserweiternde Technologien Menschen mit einer Behinderung einem gesellschaftlichen Optimierungsdruck aussetzen. Die Rehabilitationspädagogin Svenja Meuser (Technische Universität Dortmund) sieht diese Gefahr. Menschen mit einer Behinderung könnten unter massiven Druck geraten, Enhancement- Technologien zu nutzen. Die Heil-, Sonder- und Rehabilitationspädagogik ist laut Meuser dringend gefordert, „einen ethischen Schutzbereich für Menschen mit Behinderung aufzustellen.“

In der Medizin

KI soll die Überlastung der Notaufnahmen vermeiden. Foto: iStock / vm

Insbesondere im Medizinsektor sind die KI-Hoffnungen groß. KI-Systeme sollen nicht nur Diagnosen und Therapien verbessern sowie personalisieren oder die Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten revolutionieren. Sie sollen auch helfen, Abläufe in Krankenhäusern zu optimieren. Drei Beispiele.

Digitaler Zwilling

Unter anderem an der Universität Leipzig wird am Konzept des digitalen Zwillings geforscht. Dabei handelt es sich um eine virtuelle Abbildung der Patientin oder des Patienten, die alle benötigten Daten – z.B. zu Medikation, Krankheiten, Behandlungsprozessen und ggf. auch zur Genetik – beinhaltet. Anhand der verknüpften Daten lassen sich individuelle Krankheitsverläufe mit einem Modell vorhersagen, Therapien testen und optimieren. Derzeit in der Entwicklung ist eine vertrauenswürdige Dateninfrastruktur (GAIA-X) für den sicheren Austausch von Modellen, Daten und Services, damit z.B. Kliniken, Praxen, ambulante Einrichtungen die Technologie nutzen können. In der Industrie ist das Konzept des digitalen Zwillings bereits weit verbreitet, z.B. um Autos effizienter zu entwickeln oder den Energieverbrauch von Gebäuden zu optimieren.

KI-optimierte Notaufnahme

KI-Systeme können auch helfen, die Abläufe im Krankenhaus zu optimieren. Darauf zielt das 2022 gestartete Forschungsprojekt ZNAflow. Entwickelt wird ein KI-basiertes Assistenzsystem, das aus diversen Datenquellen lernt und Prognosen zum Patientenaufkommen in der Zentralen Notaufnahme trifft. Das System soll dem klinischen Personal helfen, kritische Engpässe frühzeitig zu erkennen und teilautomatisiert zielgerichtete Maßnahmen einzuleiten. Dazu zählen z.B. Dienstplanänderungen, das zeitgerechte Verlegen von Patientinnen und Patienten oder das Freihalten diagnostischer Kapazitäten. Koordinator des Verbundprojekts ist die Technische Universität München (TUM), zu den Projektpartnern zählt unter anderem Agaplesion mit dem evangelischen Krankenhaus in Mittelhessen. Man erhoffe sich von dem System eine bessere Steuerung der Patientenströme, die über den Rettungsdienst, aber auch andere Wege in die Notaufnahme kommen, erklärt Nicola Friedhoff, Ärztliche Leiterin der Interdisziplinären Notaufnahme. „Auch wollen wir unser Team mit Hilfe der KI-Lösung zeitnah vor Überlastung schützen.“

KI-generierte Dienstpläne

Ein Schlüssel für gute Arbeitsbedingungen in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft sind bekanntermaßen die Dienstpläne. Ob KI die Dienstplanung verbessern hilft, hat das vom Land NRW und der EU unterstützte Projekt KI‐PEPS bis 2021 modellhaft untersucht. Die Bilanz fällt gemischt aus. Das entwickelte Prototyp‐System konnte in den meisten Fällen regelkonforme Dienstpläne generieren, was angesichts zahlreicher rechtlicher Vorgaben herausfordernd ist. Allerdings wurde die Qualität dieser Pläne noch nicht als praxistauglich eingestuft. Der Grund: Das System konnte viele Faktoren noch nicht berücksichtigen, z.B. Mitarbeiterpräferenzen und nicht verschriftlichte Verabredungen innerhalb der Belegschaft. Projektleiter Marc Otten, heute Bereichsleiter Software Engineering & Operations bei der an KI‐PEPS beteiligten Pradke GmbH, fasst das Ergebnis so zusammen: „Die automatisierte Dienstplanung durch KI‐Modelle ist prinzipiell möglich, aber der Weg zu einem produktfähigen KI‐Modell ist noch lang.“ Auch deshalb konzentriert sich das Unternehmen aktuell auf simplere KI-Assistenzfunktionen, etwa zur Unterstützung bei der Antragsbearbeitung oder beim Ausfallmanagement.

Fazit

Als kleiner Ausschnitt der aktuellen Entwicklung zeigen die Beispiele die KI-Potenziale für die diakonische Arbeit auf: als individuelle Hilfe für Menschen mit Unterstützungsbedarf, zur Entlastung der Mitarbeitenden und im Sinne effizienterer Prozesse. Klar ist auch: Nicht alle Ansätze werden den Sprung in die Praxis schaffen, was zur Entwicklung neuer Technologien dazu gehört. Entscheidend hierfür ist – das haben diverse Modellprojekte gezeigt - die konsequente Nutzenorientierung.


VdDD.Magazin "diakonie unternehmen"

Mehr zum Thema "Mensch und KI - Das neue Miteinander" finden Sie im VdDD-Mitgliedermagazin "diakonie unternehmen" 1/23, das VdDD-Mitgliedern kostenfrei zur Verfügung steht. 

Ansprechpartner


Alexander Wragge
Alexander Wragge

Referent für digitale Kommuni­kation und politische Netzwerk­arbeit